Etappe 4 – Von der Cabane Valsorey zum Grand Combin und hinab zur Cabane Chanrion
4 Uhr morgens aufstehen, schnell frühstücken, Zähne putzen, Morgentoilette und dann in den kalten Nachthimmel hinausgehen. In die Ski steigen und in den lautlosen, wolkenlosen Nachthimmel hineinsteigen. Das Licht des Mondes zu sehen, das leise knirschen des Schnees zu hören, die Kälte an den Wangen, Zehen und Fingern spüren.
Ich habe das Prozedere schon häufig gemacht. Dabei gehen viele Abläufe automatisch, aber trotzdem gibt es Touren, wo man etwas mehr aufgeregt ist, etwas weniger gut schläft als bei anderen. Diese Tour heute ist so eine. Weil man nicht so recht weiß, was auf einem wirklich zukommt. In den Führern steht stark verhältnisabhängig, meist keine guten Verhältnisse, bröseliger Fels und oft Lawinengefährlich. Wenig Begehungen. Aber wir machen uns berechtigt Hoffnungen… Auf Grund der Bilder und Berichte der Hüttenwirtin. Auch weil der letzte Neuschnee für uns gut sein könnte, er könnte die losen Steine in der Südwestflanke binden, uns leichter in den Rinnen nach oben steigen lassen. Aber wir werden sehen.
Wir steigen zu dritt den Glacier du Meitin in steilen Spitzkehren hinauf. Erst noch in einer guten Spur, dann aber nach etwa 5 Minuten sind die Spuren zugeweht. Wir müssen spuren. Einziger Vorteil, jetzt können wir die Steilheit der Spur selbst bestimmen. Ich fühle mich heute gut! Heute hab ich anscheinend einen guten Tag erwischt. Voller Vorfreude setze ich die nächste Spitzkehre.
Irgendwann unter einem Felsriegel geht mit Ski nichts mehr. Es ist eiskalt, bestimmt an die zwanzig Grad Minus, denn schon nach einer Minute ohne Bewegung sind meine Füße und Finger kalt. Ich zittere ein wenig aber konzentriere mich auf mein Tun. Auf die Steigeisen, auf die Ski und Stöcke die sicher am Rucksack befestigt werden müssen. Denn ein Fehler beendet diese Tour für mich. Endlich ist alles befestigt, ich warte noch kurz einen Moment, trink einen Schluck aus der Thermoflasche und schon kommt die Last auf den Rücken. Die anderen beiden kommen wenig später nach. Ich spure nach oben, hoffe das ich dabei warm werde.
Viele Tritte sind über Nacht zugeweht. Es wird steil, bestimmt 45 Grad. Aber wir kommen gut voran. Nach 15 Minuten, queren wir nach rechts, um dann wieder gerade hinaufzuklettern. Mittlerweile hat mich Christian abgewechselt. Ich bin dankbar für die kleine Pause. Der Schnee wird pickelhart. Etwa 20 Meter haben wir noch. Was sollen wir tun. Zum Col hinüberqueren oder gerade hinauf, um direkt den Weg in die Südwestflanke anzutreten. Wir entscheiden uns für gerade hinauf, denn das ist einfacher und kostet weniger Zeit. Der Schnee ist gut, die Steigeisen und Pickel greifen gut. Aber ich friere trotz der Anstrengung. Ich spüre meine Zehen nicht mehr. Ich zittere. Was soll ich machen. Ich sage vorerst nichts zu Till und Christian und klettere den beiden Hinterher. Jetzt ist Till an der Reihe, er spurt in teils knietiefen Schnee. Er ist heute in Topform. Auch Christian, mit dem er sich abwechselt strotzt nur vor Energie. Ich bin froh nicht Spuren zu müssen, denn da wären meine Füße andauernd im Schnee.
Endlich am Skidepot angekommen. Hier ist wegen der kontinuierlichen Steigung in der Flanke der erste vernünftige Platz für eine Skidepot hinter mehrerer aufschichteten Steinen. Wir machen kurz Pause. Ich trinke aus der Thermosflasche und richte meine Ausrüstung. Wir diskutieren kurz über den Weiterweg, erst ein wenig rechts, dann die Rinne nach oben erwischen und dann je nach Schneelage weiter...
Till führt wieder vorneweg, dann Christian, dann folge ich mit einigem Abstand. Mir raubt die Kälte die Kraft, schnaufe wie, wenn ich ein 10 Kilometerrennen laufen würde. Ich komme aber den beiden kaum hinterher. Wir machen Pause, es ist gerade Sonnenaufgang, der mich sonst immer fasziniert, ein ganz besonderer Moment, wenn die Sonne die ersten Bergspitzen beleuchtet. Nur heute kann ich diese einmalige Stimmung nicht recht genießen.
Ich rede von meinen Füßen, meinen Zehen und dass ich diese schon einige Zeit nicht mehr spüre. Ich will aber weiter, wir hoffen auf die Sonne, die bereits am Horizont erkennbar ist und mit ihren Strahlen den Col weit unten beleuchtet. Aber es dauert noch bis die Sonne in diese kalte Südwestwand kommt. Wenn nur nicht dieser eisige Wind so stark wäre.
Christian klettert weiter die gleichbleibend steile Flanke hinauf. Mal im Stapfschnee, mal auf griffigem Hartschnee, aber immer so um die 45 Grad. Till folgt und versucht mir mit guten Tritten zu helfen. Wir verlassen ein letztes Schneeband und stehen im steilsten Schotter, der nur von Eis und Schnee zusammengehalten wird. Insgesamt ein schwieriges Gelände. Man kann gar nicht so vorsichtig steigen, dass die unter einem Kletternden nicht die Steine auf den Kopf kriegen.
Der Gipfel ist schon zu sehen, eigentlich ein Katzensprung aber doch so unendlich weit weg. Über uns ist ein Felsriegel, der laut Beschreiung maximal UIAA II ist. Till ist motoviert und will zum Gipfel, Christian hat Bedenken und will eher nach unten. Ich zittere am ganzen Körper und kann vor Kälte keinen richtigen Tritt mehr finden. Ich habe irgendwie meine Sicherheit in diesem Gelände verloren. Es geht nicht mehr. Till akzeptiert ohne Murren unsere Entscheidung. Ein toller Sportsmann! Denn auch mit Sonne hört der Wind nicht auf. Wir sehen die Schneefahnen am Gipfel. Wir steigen ab! 60 Höhenmeter unter dem höchsten Punkt. Was für eine Katastrohe oder doch der Sieg der Vernunft. Naja, momentan finde ich alles gerade voll zum Kotzen!
Viel schneller als erwartet geht es hinunter und eine halbe Stunde später steht die Sonne in der Mitte der Wand. Hatten wir doch die falsche Entscheidung getroffen? Wir klettern weiter arschlings die Schneerinnen hinunter und sehen die anderen gerade weiter zum Col du Sonadon gehen. Sie winken, wir winken zurück. Wenn die nur wüssten…
Schon kurze Zeit später stehen wir beim Skidepot und machen kurz eine Trinkpause. Die letzten Meter steigen wir in der Sonne zum Col hinab, richten unsere Ausrüstung und setzen uns auf unsere Rucksäcke. Ich strecke meine Skischuhe in die Sonne. Jetzt erst merke ich wieder etwas. Das Plastik der Skischuhe wird warm, dann fangen sie an zu kribbeln, schmerzen wie wild. Wir steigen in die Ski und fahren die kurze Strecke zum Col du Sonadon auf 3504m und steigen die paar Höhenmeter auf.
Da wir heute nicht ohne Gipfel in die Hütte fahren wollen, beschließen wir den Grande Tète de By zu besteigen. Ein gewaltiger Aussichtsgipfel mit 3586 Meter. Wir gleiten vom Col in die Flanke und steigen in wenigen Minuten hinüber zum Skidepot. Dort sehen wir die anderen aus unserer Gruppe, die sich gerade im Abstieg befinden. Wir steigen im leichten Gelände auf den höchsten Punkt, machen ein paar Bilder und genießen die Aussicht, die hier wirklich einmalig ist. Grand Combin. Matterhorn, Weißhorn und alle anderen Walliser Hochkaräter. Weit hinten der Mont Blanc.
Wir steigen anschließend ab und vereinbaren, dass wir uns unten am flachen Glacier du Durand zu einer großen Pause treffen. Über wunderbare Hänge fahren wir im guten Schnee die großen Schneeflächen hinunter zum Treffpunkt. Jetzt ist das meiste geschafft. Was für eine Monster-Etappe! Jetzt müssen wir nur noch zum Etappenziel, zum Cabane Chanrion auf 2462 Meter. Einen neugebauten Luxustempel in dieser alpinen Welt. Der letzte Gegenanstieg zur Cabane ist bald geschafft und dann komme ich endlich aus meinen Schuhen raus. Was für eine Wohltat!